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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

Offene Zukunft und unsicheres Zukunftswissen: die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle

verfasst von : Armin Grunwald

Erschienen in: Entscheidungen in die weite Zukunft

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Die sichere Lagerung radioaktiver, insbesondere hochradioaktiver und damit wärmeentwickelnder Abfallstoffe ist in Deutschland als Endlagerung in einer tiefen geologischen Formation beabsichtigt. Bestimmte Ungewissheiten resultieren aus der Notwendigkeit, lange Zeiträume, für die Zukunftswissen grundsätzlich unsicher ist, in Betracht ziehen zu müssen. Jegliche Strategie zum langfristigen Umgang mit hochradioaktiven Abfällen ist angesichts der Halbwertszeiten der jeweiligen Nuklide bzw. ihrer Zerfallsprodukte mit der Notwendigkeit konfrontiert, für lange, teils sehr lange Zeiträume zu planen bzw. Vorsorge zu treffen. Es geht um Sicherheit vor Strahlung und möglichen toxischen Effekten durch die Abfälle bzw. ihre Zerfallsprodukte für eine Million Jahre, wie dies 2010 vom Umweltministerium festgelegt wurde. Die erwartete Gewährleistung bzw. ein Nachweis dieser Sicherheit kollidieren insbesondere mit der Erfahrung, dass Zukunftswissen generell und insbesondere für derart lange Zeiträume unsicher ist. Die Spannung zwischen dieser bekannten Unsicherheit und dem Wunsch nach Sicherheit ist Gegenstand dieses Kapitels. Der Schwerpunkt liegt auf erkenntnistheoretischen Fragen des Zukunftswissens, wobei Zukunftswissen nach naturwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Feldern erkenntnistheoretisch differenziert betrachtet wird. Die Übertragung dieser allgemeinen Betrachtungen auf die Endlagerung erlaubt Schlussfolgerungen für Verantwortungszuschreibung und Handeln.

1 Einleitung und Überblick

Die sichere Lagerung radioaktiver, insbesondere hochradioaktiver und damit wärmeentwickelnder Abfallstoffe ist in Deutschland als Endlagerung in einer tiefen geologischen Formation beabsichtigt. Ein entsprechendes Standortauswahlverfahren wurde 2017 auf Basis des Standortauswahlgesetzes (StandAG 2017) begonnen. Unter den ethischen Rahmenbedingungen, die die diesem Gesetz vorhergehende Endlagerkommission des Deutschen Bundestages für das Verfahren formulierte, findet sich eine Langzeitverpflichtung:
Die Entsorgungslösung ist so auszugestalten, dass sie keine dauerhafte Belastung für kommende Generationen auslöst, sondern auf einen sicheren Endzustand für die Entsorgung aller hoch radioaktiven Abfälle zuläuft (EK 2016, S. 31).
In diesem Zitat sind die Attribute „kommende Generationen“ ohne weitere Spezifizierung, also mit dem Potenzial der unendlichen Zeitspanne, mit dem Wunsch nach einem „sicheren Endzustand“ verbunden. Diese Kombination lässt sich leicht als Wunsch bzw. Anforderung aufschreiben, versteckt jedoch die in diesem Kapitel interessierende Unsicherheitsthematik, wie sie aus dem Handeln in langen Zeiträumen resultiert. Jegliche Strategie zum langfristigen Umgang mit hochradioaktiven Abfällen ist angesichts der Halbwertszeiten der jeweiligen Nuklide bzw. ihrer Zerfallsprodukte mit der Notwendigkeit konfrontiert, für lange, teils sehr lange Zeiträume zu planen bzw. Vorsorge zu treffen. Die genannte ethische Langzeitverpflichtung wurde von der Endlagerkommission entsprechend präzisiert:
Die radioaktiven Abfälle müssen kurz-, mittel- und langfristig sicher von der Biosphäre ferngehalten werden. Dies erfordert ein ethisches Gebot, Schäden für Mensch und Umwelt zu vermeiden. Es betrifft das gesamte zeitliche Spektrum im Umgang mit den Abfällen von der Einlagerung in Behälter, über Transportvorgänge, notwendige Zwischenlagerung, Einlagerung in das Endlagerbergwerk bis hin zum Zustand des verschlossenen Bergwerks und für die Zeit danach (EK 2016, S. 140).
Auch hier taucht wieder der Anspruch der Sicherheit auf. Es geht um Sicherheit vor Strahlung und möglichen toxischen Effekten durch die Abfälle bzw. ihre Zerfallsprodukte für eine Million Jahre, wie dies 2010 durch eine Verordnung des Bundesumweltministeriums (BMU 2010) als Sicherheitsanforderung für ein Endlager festgelegt wurde. Im Gesetzestext liest sich dies wie folgt:
Der Standort mit der bestmöglichen Sicherheit ist der Standort, der im Zuge eines vergleichenden Verfahrens aus den in der jeweiligen Phase nach den hierfür maßgeblichen Anforderungen dieses Gesetzes geeigneten Standorten bestimmt wird und die bestmögliche Sicherheit für den dauerhaften Schutz von Mensch und Umwelt vor ionisierender Strahlung und sonstigen schädlichen Wirkungen dieser Abfälle für einen Zeitraum von einer Million Jahren gewährleistet (StandAG 2017, §2).
In dieser Bestimmung ist das Wort „bestmöglich“ interpretationsbedürftig. Es ist zwar notwendig, um das Prinzip der unter Sicherheitsaspekten vergleichenden Standortsuche in Gang zu setzen. Jedoch muss es durch Sicherheitskriterien präzisiert werden, wie dies im Anhang zum Gesetzestext auf Basis der Empfehlungen der Endlagerkommission auch in Form von geologischen Ausschlusskriterien, Mindestbedingungen und Abwägungskriterien niedergelegt ist. Das Wort „gewährleistet“ erweckt jedoch in Entgegensetzung zum abwägungsorientierten „bestmöglich“ den Anschein der Eindeutigkeit. Die entsprechende Sicherheitsanforderung zu gewährleisten, meint wörtlich verstanden, sie garantiert zu erfüllen. Ähnlich ist dies in Bezug auf die Sicherheitsnachweise, die im späteren Genehmigungsverfahren zu erbringen sind. Die Sicherheit soll nachgewiesen werden, und dies für einen Zeitraum von bis zu einer Million Jahre.1
Die erwartete Gewährleistung bzw. ein „Nachweis“ kollidieren insbesondere mit der Erfahrung, dass Zukunftswissen generell und insbesondere für derart lange Zeiträume unsicher ist. Die Spannung zwischen dieser bekannten Unsicherheit und dem Wunsch nach Sicherheit, wie er sich in den Worten „Nachweis“ und „Gewährleistung“ ausdrückt, ist Gegenstand dieses Kapitels. Der Schwerpunkt liegt auf erkenntnistheoretischen Fragen des Zukunftswissens. Ihre Relevanz für Verantwortung und Handeln wird zum Schluss angesprochen, aber nicht im Detail ausgeführt. Nach einer Hinführung zu Bedarf an und Herausforderungen von Zukunftswissen in der Endlagerfrage (Abschn. 2) erfolgt eine kurze Vergewisserung zu den Begriffen Zukunft und Zukunftswissen (Abschn. 3), bevor Zukunftswissen nach naturwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Feldern erkenntnistheoretisch differenziert betrachtet wird (Abschn. 4). Die Übertragung dieser allgemeinen Betrachtungen auf die Endlagerung erlaubt Schlussfolgerungen für Verantwortungszuschreibung und Handeln (Abschn. 5).

2 Zukunftswissen in der Endlagerung: Bedarf und Herausforderungen

Für Planung und Entscheidungsfindung zur Endlagerfrage, in gewisser Weise bereits im Standortauswahlverfahren, ist vorausschauendes Wissen bzw. die vorausschauende Einschätzung zukünftiger Gegebenheiten erforderlich. Die große zeitliche Reichweite der Endlagerfrage verschärft dramatisch einen wohlbekannten generellen Aspekt: die Unsicherheit von Zukunftseinschätzungen. Eine Million Jahre in die Zukunft zu denken, fällt schwer oder erscheint gar als unmöglich. Freilich stellt sich dieses Zukunftsdenken sehr unterschiedlich dar. In geologischen Dimensionen der Erdkruste ist eine Million Jahre anders einzuschätzen als in technischer oder gesellschaftlicher Hinsicht. Gemessen an den 200 bis 300 Mio. Jahren, die die Salzstöcke in Norddeutschland bereits bestehen, ist eine Million Jahre für ein Endlager nicht sehr viel, weniger als ein Prozent ihrer bisherigen Lebenszeit. Ähnlich ist dies für andere für ein Endlager in Frage kommende Gesteinsformationen. Genau diese Eigenschaft ist das zentrale Argument für eine Tiefenlagerung der radioaktiven Abfälle in geologischen Formationen. Auch wenn deren nur sehr geringe zeitliche Dynamik belastbare Modellierung und darauf aufbauende Zukunftserwartungen über z. B. langfristige Stabilität mit einiger Evidenz erlauben, bleibt es eine Herausforderung, die gesetzlich geforderte Sicherheit nachzuweisen.
Anders stellt sich die Lage in menschheitsgeschichtlichen Fragen dar. Gemessen an den etwa zehntausend Jahren des Bestehens menschlicher Hochkulturen, an den etwa fünfhundert Jahren seit Entstehen der Neuzeit und des wissenschaftlichen Zeitalters, an den erst gut hundert Jahren, seit die Menschheit mit Radioaktivität technisch umgehen kann, oder an den erst etwa 15 Jahren der Existenz der digitalen social media erscheint eine Million Jahre als unvorstellbar lange Zeit. Diese in Form von gesellschaftlichen Szenarien oder gar Prognosen einzufangen, verbietet sich sogar für die Optimisten der Zukunftsforschung. Niemand kann sagen, wie Gesellschaften in weiter Zukunft aussehen und welche Technologien sie entwickeln werden, niemand weiß, ob und wie eine Menschheit dann überhaupt noch existieren wird. Bereits die nahe Zukunft in einigen Jahrhunderten entzieht sich vollständig der Erkenntnis. Übliche Vorausschau-Prozesse im gesellschaftlichen Bereich, etwa zur nachhaltigen Entwicklung oder zur Zukunft der Demokratie, nehmen daher höchstens einige Jahrzehnte in den Blick. Auch in der Beschränkung auf diese vergleichsweise sehr kurzen Zeiträume sind die Unsicherheit des vorausschauenden Wissens bzw. die Offenheit der Zukunft (Grunwald 2018) zentrale Themen:
Gesellschaften sind zu komplex und die unbeabsichtigten Effekte scheinbar begrenzter Wirkungszusammenhänge können zu unberechenbar sein, als dass sich zukünftige gesellschaftliche Strukturen, Ordnungen oder Entwicklungen auch nur mittelfristig verlässlich vorhersagen ließen. Dies weiß man nicht zuletzt aus der Geschichte von Zukunftsprognosen: Wir leben in Gesellschaften, deren soziale Strukturen, Rationalitäten, Kommunikationsformen, Normativitäten, Weltdeutungen und vieles andere mehr noch vor einhundert oder fünfhundert Jahren völlig unvorstellbar waren und nicht hätten vorhergesagt werden können (Blattmann et al. 2023, S. 36).
Die Unsicherheit des Zukunftswissen, ob nun geologisch oder gesellschaftlich, hat über die erkenntnistheoretische Dimension hinaus praktische Auswirkungen. Unsicherheiten des Zukunftswissens stellen die Möglichkeit von abschließenden im Sinne von endgültigen und irreversiblen Entscheidungen grundsätzlich in Frage (Kalinowski und Borcherding 1999). Auch wenn die Endgültigkeit einer Endlagerung grundsätzlich relativ zu verstehen ist, da die Rückholung der Abfälle keine prinzipielle, sondern eine Frage des Aufwands ist, steigt das Maß der Irreversibilität mit der Zeit nach dem Verschluss des Endlagerbergwerks, z. B. mit der Degradation der Behälter. Die Bewertung von Teilgebieten, Standortregionen oder möglichen Standorten hängt genauso wie die Einschätzung von Sicherheitsnachweisen von der Qualität bzw. Unsicherheit der zugrunde liegenden Einschätzungen zur zukünftigen Entwicklung und Stabilität einer geologischen Formation ab. Trotz und in der Unsicherheit muss gehandelt und entschieden werden, ansonsten wäre eine Handlungsblockade die Folge. Entscheidungen zur Endlagerfrage müssen unter nicht eliminierbaren Unsicherheiten getroffen werden. Diese müssen entsprechend reflektiert werden, um mit ihnen verantwortungsvoll umgehen zu können (Abschn. 5).
Die Unsicherheiten und damit verbundene mögliche Risiken haben auch eine ethische Dimension der Verteilung über Ort und Zeit. Fragen der folgenden Art stellen sich: Für wen und wie weit in die Zukunft reicht die Langzeitverantwortung? Welchen Stellenwert darf die gegenwärtige Situation haben, etwa mit Blick auf gegenwärtige Siedlungsstrukturen oder Industriestandorte? Spielt es eine Rolle, dass die Unsicherheit des geologischen Zukunftswissens und erst recht gesellschaftlicher Zukunftserwartungen mit zunehmendem Abstand zur Gegenwart größer wird? Hängt Zukunftsverantwortung mit der Qualität und Belastbarkeit des relevanten Zukunftswissens zusammen? Dies wird seit Jahrzehnten in der Nachhaltigkeitsforschung diskutiert: Darf es aufgrund abnehmenden Wissens eine bewusste und explizite Diskontierung möglicher Schäden für die ferne Zukunft im Vergleich zur nahen Zukunft geben? Während dies dort durchaus kontrovers ist (Grunwald und Kopfmüller 2021), scheint diese Frage im Bericht der Endlagerkommission und im Standortauswahlgesetz keine Rolle zu spielen. Der genannte Zeitraum der eine Million Jahre wird nicht in sich differenziert. Der Nachweis der Sicherheit muss für den ganzen Zeitraum ohne Unterschiede geführt werden, was Erwartungen wie Herausforderungen an die Evidenzeinschätzung unsicheren Zukunftswissens nicht gerade kleiner macht.

3 Zukunft und Zukunftswissen

Der Begriff der Zukunft gehört scheinbar zu den Selbstverständlichkeiten der Sprache, sowohl in der Lebenswelt als auch in den Wissenschaften. Menschen machen Aussagen im Futur, geben einerseits Prognosen oder andere Formen zur Einschätzung zukünftiger Entwicklungen und Ereignisse ab und richten sich andererseits nach ihnen, wie z. B. dem Wettbericht oder einer Vorhersage der Aktienentwicklung durch den Anlageberater. Zukunftsannahmen orientieren das Handeln. Menschen formulieren Erwartungen und Befürchtungen an zukünftige Entwicklungen, bewerten Zukünfte nach Chance oder Risiko, setzen Ziele und denken über Pläne zur Realisierung nach. Zukunft vergegenwärtigen zu können, über zukünftige Entwicklungen nachdenken und alternative Handlungsoptionen entwerfen und vergleichend bewerten zu können, gilt anthropologisch als eines der Kennzeichen des Menschen (Kamlah 1973).
Zukunftswissen wird grundsätzlich von Menschen gemacht, kommuniziert und genutzt, ob es nun auf lebensweltlicher Erfahrung oder wissenschaftlichem Wissen beruht. Wissenschaftliches Zukunftswissen, um das es im Folgenden geht, wird erzeugt und nicht entdeckt. Wissenschaftliche Vorhersagen, Szenarien oder Aussagen zur zukünftigen Entwicklung geologischer Formationen oder von Technikfolgen werden durch Autoren, Teams und Institutionen unter Rückgriff auf Ausgangsbedingungen mit bestimmten Methoden erzeugt. Zu den „Zutaten“ für Vorhersagen gehören Wissensbestände, Zeit- und Problemdiagnosen, Werte, Weltanschauungen, Wunschbilder für zukünftige Welten, gegenwärtige Interessen und Präferenzen, Annahmen über unbeeinflussbare Randbedingungen etc. In unterschiedlichen Verfahren, z. B. durch Modellierung, Simulation oder in Form von Szenarien werden diese „Zutaten“ zu einem konsistenten Ganzen miteinander verbunden. Für die Qualität der entstehenden Zukunftsaussagen gelten je nach Kontext unterschiedliche Kriterien, z. B. für wissenschaftliche Zukunftsstudien andere als für Romane der Science-Fiction. Eine für das Verständnis dieser Kriterien entscheidende Beobachtung ist über 1600 Jahre alt:
Das ist nun wohl klar und einleuchtend, dass weder das Zukünftige noch das Vergangene ist. Eigentlich kann man gar nicht sagen: Es gibt drei Zeiten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft … In unserem Geiste sind sie wohl in dieser Dreizahl vorhanden, anderswo aber nehme ich sie nicht wahr. Gegenwärtig ist hinsichtlich des Vergangenen die Erinnerung, gegenwärtig hinsichtlich der Gegenwart die Anschauung und gegenwärtig hinsichtlich der Zukunft die Erwartung (Augustinus Bekenntnisse XI, 20).
Danach existiert nur die Gegenwart als Zeit, in der Menschen Erfahrungen machen, lernen, erkennen, entscheiden und handeln können. Vergangenheit und Zukunft existieren nicht als solche: sobald etwas vergangen ist, existiert es nicht mehr, das Zukünftige existiert noch nicht. Beides besteht nur in der Vergegenwärtigung durch Menschen in einer jeweiligen Gegenwartssituation. Die Vergangenheit existiert nach Augustinus nur als Erinnerung, die Zukunft als Erwartung. Die Erinnerung kann sich auf Hinterlassenschaften der Vergangenheit stützen wie Texte, Bilder oder alte Mauern. Diese werden von Archäologen und Historikern untersucht und zu möglichst konsistenten historischen Theorien verbunden, wobei es trotz der Existenz dieser Daten und teilweise sogar ausgezeichneter Datenlage, etwa aus der jüngeren Zeit, immer wieder zu erheblichen Kontroversen kommt.
Dagegen gibt es nichts Entsprechendes aus der Zukunft. In der Sprache der Digitalisierung: Es sind Daten aus der Vergangenheit verfügbar, aber keine Daten aus der Zukunft, auch keine schlechten. Wenn dies auch ein triviales Faktum ist, hat es weitreichende Auswirkungen. Das Wort von der Zukunftsforschung beispielsweise ist wörtlich verstanden sinnlos, da eine solche keine Daten zur Untersuchung hätte. Was dort gemacht wird ist etwas anderes: Daten aus der Vergangenheit, also „Erinnerungen“, werden herangezogen, um zeitliche Entwicklungen zu erkennen und diese in die Zukunft zu verlängern. Dabei wird jedoch keine Zukunft erforscht, sondern es werden auf Basis der Vergangenheit mehr oder weniger plausible Aussagen über zukünftige Entwicklungen gemacht. Der Plural „Zukünfte“ macht darauf aufmerksam, dass unterschiedliche „Zutaten“ und unterschiedliche Weisen ihrer Verbindung üblicherweise auf sehr unterschiedliche Bilder der Zukunft führen, während der Singular dem Missverständnis Vorschub leistet, dass es eine Zukunft gebe, die heute erforschbar sei.
Diese „Zukünfte“ können, anders als empirische Aussagen üblicher Forschung, nicht empirisch geprüft oder falsifiziert werden – außer man wartet bis zum Zeitpunkt, für den eine bestimmte Zukunftsaussage gemacht wurde. Dies ist jedoch pragmatisch sinnlos, da die Zukunftsaussagen der Handlungs- und Entscheidungsvorbereitung dienen sollen, etwa als Energieszenarien. Das Abwarten würde den Sinn verfehlen, warum sie überhaupt erstellt werden. Darüber hinaus wäre es in der Endlagerfrage aufgrund der langen Zeiträume besonders sinnlos abzuwarten, etwa ob eine geologische Formation nach einer Million Jahre wirklich noch so stabil ist wie dies gegenwärtige Modelle zeigen.
Da es nur Daten aus der Vergangenheit und bestenfalls Gegenwart gibt, kann handlungsorientierendes Zukunftswissen auch für die Endlagerfrage immer nur daraus sowie den damit kohärenten Theoriebildungen erzeugt werden. Auch normative Vorstellungen für die Zukunft mit der Festsetzung von bestimmten Zielen werden in einer jeweiligen Gegenwart gesetzt. Zukunftsaussagen zur Ermöglichung und Begleitung guter Entscheidungen zur Endlagerfrage können sich nur auf die gegenwärtig verfügbare Daten- und Theoriebasis beziehen. Zukunftswissen ist also etwas je Gegenwärtiges und kann sich verändern, so etwa falls neues geologisches Wissen vorliegt, aber auch aufgrund neuer gesellschaftlicher Verhältnisse. Viele als evident angesehene Zukunftserwartungen mussten während der Corona-Pandemie teils stark korrigiert werden. Der Ukraine-Krieg ist wegen der hohen deutschen Abhängigkeit von russischem Gas und Öl Anlass, neue Szenarien für den Energiemix der nächsten Jahre zu entwerfen.
Zukunftswissen und Zukunftserwartungen egal welcher Art, wissenschaftlich, alltagsweltlich, künstlerisch oder technisch, sind damit zunächst Ausdruck eines jeweilig gegenwärtigen Denkens bzw. einer der vielen Möglichkeiten, gegenwärtig Zukunft zu entwerfen und zu deuten (vgl. Abschn. 4 zur Frage, ob und wann sie mehr sein können). Der rhetorisch vielfach beanspruchte „Blick in die Zukunft“ verbleibt in der Gegenwart. Zukünfte sind Teil ihrer Gegenwart und können mit dem Vergehen dieser Gegenwart veralten. Vielen Vorhersagen und Erwartungen merkt man die Zeit an, aus der sie stammen. Beispielsweise wirken die Paradieserwartungen an das Atomzeitalter der 1960er Jahre heute unverständlich, selbst bei den Befürwortern der Kernenergie (Grunwald 2022).
Und dennoch, trotz der Vielfalt, Unterschiedlichkeit und teils Unvereinbarkeit vieler Zukunftsaussagen bedürfen Entscheiden und Handeln der Orientierung im Hinblick auf Zukunft:
Gleichwohl versteht sich, dass Institutionen und Individuen in der sozialen Welt notwendigerweise Zukunftserwartungen hegen, an denen sie ihr Handeln ausrichten. Auch komplizierten technischen Systemen für den Umgang mit hochradioaktivem, langlebigem Material wie Tiefenlagervorhaben liegen unvermeidlich bestimmte Zukunftsvorstellungen implizit oder explizit zugrunde. Die große Herausforderung besteht also darin, über Zukünfte nachzudenken und zukünftiges Handeln zu planen, obwohl man weiß, dass über gesellschaftliche Zukünfte keine belastbaren Aussagen getroffen werden können (Blattmann et al. 2023, S. 37).
Damit steht die Frage im Raum, wie angesichts der Offenheit der Zukunft als eines Möglichkeitsraumes unterschiedlicher Erwartungen und der entsprechenden Unsicherheit des Zukunftswissens belastbare Orientierung für weitreichende Entscheidungen der Endlagerung gefunden und transparent dargestellt werden kann.

4 Die Erwartbarkeit zukünftiger Entwicklungen und Ereignisse

Nun kann trotz der obigen prinzipiellen Einschränkungen immer wieder vieles recht verlässlich über die Zukunft gewusst werden. Prognosen aus der Astronomie sind das beste Beispiel, wie gut und sicher Erwartungen an Zukünftiges sein können, auch wenn sie ausschließlich auf Daten aus der Vergangenheit und Gegenwart beruhen. In anderen Bereichen, etwa Wirtschaftsentwicklung, Wahlprognosen oder Prophezeiungen zur Corona-Pandemie betreffend, sind die Erfahrungen gemischt. Teils gelingen verblüffend gute Zukunftsaussagen, während in anderen Fällen trotz immer besserer Daten und Rechnerkapazitäten nicht selten auch groteske Fehlaussagen zu beobachten sind. Auch wenn Wissen, auf dem die Zukunftsaussagen aufbauen, ausgezeichnet die Vergangenheit repräsentiert, folgt daraus nicht zwingend, dass damit zutreffende Zukunftsbilder erstellt werden können. So können Trends exzellent an Daten aus der Vergangenheit festgestellt werden – jedoch kann niemand garantieren, dass sich in der Zukunft aufgrund anderer Randbedingungen nicht vielleicht doch alles ganz anders entwickelt. Unerwartete Ereignisse wie der Bankenzusammenbruch 2008 mit der Folge einer Weltwirtschaftskrise, der Tsunami bei Fukushima 2011, die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg können Trends kippen und Prognosen entwerten. Es ist also zu fragen, ob, wie und unter welchen Bedingungen der auf Basis der Vergangenheit erstellte Blick in die Zukunft zu belastbaren Aussagen führen kann. Wenn dies nicht gelingt, drohen Beliebigkeit, Ideologie oder selbst erfüllende Zukunftserzählungen. Im Bereich der Endlagerung sicher keine wünschenswerten Entwicklungen.
Wenn Zukunftsaussagen Erwartungen an zukünftige Entwicklungen sind, dann kommt es auf den Grad ihrer Erwartbarkeit an (Knapp 1978). Dieser Grad gibt die Erwartungssicherheit an: je kleiner er ist, umso größer ist die Unsicherheit des Zukunftswissens. Er ist für den erwarteten Zeitpunkt des Sonnenaufgangs morgen sehr groß, für das für übermorgen vorausgesagte Wetter schon kleiner, für Vorhersagen der wirtschaftlichen Erholung nach der Corona-Pandemie nochmals kleiner und für Visionen oder bloße Befürchtungen nahezu null. Die teils sehr großen Unterschiede im Grad der Erwartbarkeit pflanzen sich in die Handlungsebene hinein fort, wenn die Auswahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen anhand der jeweils erwarteten zukünftigen Auswirkungen getroffen wird – was ein durchaus übliches Schema ist.
Nun kann der Grad der Erwartbarkeit, genau wie die Zukunftsaussagen selbst, nicht empirisch anhand von Daten aus der Zukunft gestützt werden, sondern muss auf der Basis gegenwärtigen Wissens und gegenwärtiger Einschätzungen beurteilt werden. Damit rückt die erwähnte „Gemachtheit“ der Zukunftsaussagen auf der Basis von empirischem oder theoretischem Wissen in den Blick. Wissenschaftliche Zukunftsvorstellungen wie Prognosen, Szenarien oder Simulationen sind komplexe Konstrukte mit „Zutaten“ und Verfahren ihrer Integration und Auswertung. Der Grad der Erwartbarkeit der resultierenden Zukunftsaussagen hängt ausschließlich von den „Zutaten“ ab, die in die Erzeugung der Zukunftsaussage eingeflossen sind, und vom Verfahren ihrer Integration. Er darf nicht mit einem möglichen späteren Eintreffen dieser Aussagen verwechselt werden, denn darüber liegen keine Daten vor. „Zutaten“ für die Anfertigung von endlagerrelevanten Zukunftsaussagen sind ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
  • Gegenwärtiges Wissen, das nach anerkannten (z. B. disziplinären) Kriterien als Wissen erwiesen ist (geologisches Wissen über die Beschaffenheit und Eigenschaften von Gesteinsformationen anhand empirisch erhobener Daten); ggf. ist hier noch zu unterscheiden, ob es wissenschaftlichen Konsens oder verbleibende Kontroversen gibt
  • Einschätzungen zukünftiger Entwicklungen, die kein gegenwärtiges Wissen darstellen, sich aber durch gegenwärtiges Wissen begründen lassen (z. B. durch Verweis auf bisherige und auf die Zukunft extrapolierbare Regelmäßigkeiten oder durch Simulationen der Entwicklung von Geo-Modellen dieser Gesteinsformationen in die Zukunft hinein, aus denen auf die zukünftige Entwicklung der realen Systeme geschlossen wird);
  • Kontinuitätsannahmen: Annahmen (teils als ceteris-paribus Annahmen bezeichnet), in denen das Weiterbestehen und bestimmte Stabilitäten heutiger Systeme für die Zukunft unterstellt werden (Weiterbestehen der staatlichen Ordnung und der erforderlichen Institutionen im Standortauswahlverfahren, weiteres Funktionieren der Wirtschaft und der Wissenschaft etc., …);
  • Nichteintreten disruptiver Veränderungen: Abwesenheit von Krieg oder Bürgerkrieg, Nichteintreten eines desaströsen Kometeneinschlags oder anderer vernichtender Naturkatastrophen
  • Wertgebundene Einschätzungen bestimmter Sachverhalte auf Basis gegenwärtiger Diagnosen und Meinungsbildung (z. B. zur Gewichtung von geologischen Abwägungskriterien, zur Beurteilung der Relevanz von Störungszonen oder zur Abwägung zwischen Risiken für heutige und zukünftige Generationen).
Für die Beurteilung des Grades der Erwartbarkeit ist die Belastbarkeit dieser und weiterer Wissensbestände und Annahmen in Bezug auf Prämissen und blinde Flecke zu hinterfragen, genauso wie im weiteren die Schritte ihrer Verbindung und Auswertung zu prüfen sind. Die Beurteilung des Grades der Erwartbarkeit findet also als Diskurs über die – jeweils gegenwärtig gemachten – Voraussetzungen statt, die der Zukunftsaussage zugrunde liegen. Andere Möglichkeiten bestehen nicht, das gilt auch unter Zuhilfenahme der gegenwärtig gehypten KI und Big Data Technologien (Grunwald 2021).
Der Grad der Erwartbarkeit des Eintreffens von Zukunftsaussagen unterscheidet sich, wie bereits kurz angemerkt, zwischen vielen naturwissenschaftlichen Feldern und dem gesellschaftlichen Bereich deutlich. Üblicherweise werden hier Komplexitätsargumente als Gründe angeführt, dass also gesellschaftliche Systeme komplexer seien als natürliche. Offenkundig ist das Planetensystem recht überschaubar und kann gravitationsmäßig als abgeschlossenes System betrachtet werden. Mit den die Dynamik treibenden Naturgesetzen ist dies in der Tat wenig komplex. Allerdings ist dies in anderen natürlichen Systemen vollständig anders, etwa im Wettergeschehen oder in der Dynamik der Erdkruste, Erdbeben oder Vulkane betreffend. Im Wettergeschehen lässt der Grad der Erwartbarkeit schon nach wenigen Tagen stark nach und verschwindet spätestens nach zwei Wochen völlig. Dagegen sind in manchen gesellschaftlichen Bereichen auch über Jahre und Jahrzehnte einigermaßen belastbare Zukunftsaussagen möglich, so etwa zum demographischen Wandel. Auch wenn es zu unerwarteten Entwicklungen kommt, so etwa durch Migration, so stellt die Tatsache, dass die Zahl der Menschen, die in 25–40 Jahren mögliche Eltern sind, bereits heute bekannt ist, eine gewisse Stütze von Vorhersagen der zukünftigen Bevölkerungsentwicklung dar. Auch kann aus der aktuellen Geburtsrate recht gut auf den erwarteten höheren Bedarf an Schul- und Universitätsplätzen in einigen Jahren geschlossen werden.
Unterschiede der Komplexität sind also keine hinreichende Erklärung für unterschiedliche Möglichkeiten für belastbare Zukunftsaussagen. Der hierfür wesentliche Unterschied zwischen natürlichen und gesellschaftlichen Systemen ist ein anderer. Während natürliche Systeme wie etwa das Planetensystem sich durch Vorhersagen ihres Verhaltens nicht irritieren lassen, können Vorhersagen im gesellschaftlichen Bereich das System verändern, dessen Verhalten sie voraussagen wollen (Blattmann et al. 2023). Sie sind Interventionen in laufende Handlungs- und Entscheidungssituationen und können das Verhalten von Menschen ändern. So können Vorhersagen zur Entwicklung des Arbeitsmarkts die Wahl von Studienfächern und Ausbildungsgängen beeinflussen, sodass sich Zukunftsaussagen selbst erfüllen oder zerstören können (Merton 1948). Oft ist dieser Effekt in pädagogischer Absicht erwünscht, wie etwa immer wieder in der Pandemie, wo dramatische Zukunftsaussagen die Menschen zur Vorsicht bewegen sollten. Auch in der Zuspitzung von Klima- und Klimafolgenaussagen lässt sich immer wieder eine pädagogische Absicht feststellen. Freilich verbraucht sich dieses „alarmistische“ Muster bei zu häufigem Gebrauch (Grunwald 2002).
Auf einer recht groben Ebene lassen sich folgende Kategorien der Erwartbarkeit von Zukunftsaussagen im Endlagerbereich bestimmen, wobei natürlich die Entwicklung stärker differenzierender Feinjustierungen erwünscht wäre. Sie sind charakterisiert durch unterschiedliche Verfahrensweisen, den Grad der Erwartbarkeit zu bestimmen:
  • Geologische Erwartbarkeit: Dies ist eine naturwissenschaftliche Situation, in der von Menschen erzeugtes Zukunftswissen nicht den geologischen Ablauf beeinflusst. Entsprechend versprechen mehr relevante Daten und mehr Wissen höhere Evidenz, auch wenn sie aus der Vergangenheit stammen, da Aussicht besteht, dass die natürlichen Prozesse ganz oder zumindest über lange Zeiträume stabil bleiben.2 Dies zieht die Aufforderung nach sich, zur Erhöhung des Grades der Erwartbarkeit Ressourcen in Datenerhebung und Auswertung zu investieren.
  • Geotechnische Erwartbarkeit: Diese Form der Evidenzbasierung von endlagerrelevanten Aussagen betrifft z. B. die Haltbarkeit der Behälter zum Zwecke einer möglichen Rückholung und beruht auf Labor- oder in situ Experimenten und Simulationen. Nun sind auch dadurch keine Zeitraffer-Experimente möglich, in denen zum Beispiel im Labor das Verhalten von Behältern unter Endlagerbedingungen über 500 Jahre empirisch erforscht werden könnte. Das Beispiel der unerwartet schnellen Degradation von Betonbrücken, z. B. auf deutschen Autobahnen, zeigt, dass diese Art des Zukunftswissens durchaus prekär sein kann. Aber auch hier gilt, dass mehr Experimente und Daten die Belastbarkeit von Zukunftsaussagen steigern können.
  • Gesellschaftliche Erwartbarkeit: Grundsätzlich anders ist dies in Bezug auf Zukunftswissen im gesellschaftlichen Bereich. Sicher spielt die Komplexität multi-faktorieller Ursachen eine Rolle, aber auch, wie gesagt, die Möglichkeit, dass Zukunftsaussagen den realen Lauf der Dinge beeinflussen können. Hier bringen mehr Daten nicht unbedingt eine bessere Evidenz in Bezug auf die Erwartbarkeit, manchmal allerdings schon. Dies bedarf der Untersuchung und Reflexion im Einzelfall.
  • Abwesenheit totaler Disruption: Eine grundsätzliche, wohl unvermeidbare Annahme aller wissenschaftlichen Zukunftsaussagen ist, dass komplett disruptive Ereignisse wie das Ende der Menschheit in einem Atomkrieg oder ein schwerer Asteroideneinschlag wie beim Ende der Dinosaurier nicht eintreten werden. Annahmen dieses Typs haben ihre eigene Rationalität, auch wenn sie nicht belegbar sind, da ohne sie jegliches Zukunftsdenken und alle Vorsorge sinn- und haltlos wäre. Stabilitätsannahmen dieser Art für den Planeten und die menschliche Zivilisation bis zur Phase des Vergessens des Standorts eines Endlagers sind „als ob“- Aussagen: Das Endlager wird geplant und betrieben, „als ob“ diese Stabilität in Zukunft erhalten bliebe. Als solche bedürfen sie keiner Evidenzprüfung.
Nun stehen diese erkenntnistheoretisch unterschiedlichen Anteile von Wissen in Bezug auf Endlagerung nicht jeweils für sich, sondern prägen Wechselwirkungen aus, von denen zumindest zwei eigenständige Fragen aufwerfen:
  • Geologisch/geotechnisch: ein Endlager für hochradioaktive Abfälle soll in einer tiefen geologischen Formation errichtet werden. Jedoch bedeutet das nicht, dass nur geologische Wissensbestände entscheidend für Langzeitaussagen wie etwa Sicherheitsbewertungen sind. Denn geologische Wissensbestände gelten in Reinform nur für vom Menschen ungestörte geologische Systeme. Ein Endlager jedoch ist eine geotechnische Intervention in eine geologische Formation, sozusagen eine Störung. Geologie und Technik stehen in Wechselwirkung und müssen gemeinsam betrachtet werden. Dies gilt aufgrund der dort erheblich größeren Anforderungen an technische Schutzvorkehrungen insbesondere im Wirtsgestein Kristallin (Granit).
  • Geotechnisch/gesellschaftlich: da geotechnische Interventionen grundsätzlich eine gesellschaftliche Seite haben, z. B. über Abwägungs- und Entscheidungsverfahren, gerät auf diesem Weg auch die gesellschaftliche Seite von Zukunftsaussagen zur Endlagerung in den Blick. Besonders virulent ist dies angesichts der Forderung im StandAG, dass die Abfälle für etwa 500 Jahre nach Verschluss des Bergwerks noch rückhol- bzw. bergbar sein sollen. Dies setzt nicht nur eine entsprechende Technologie voraus, z. B. die Fähigkeit zur Abteufung eines neuen Bergwerks neben dem bestehenden, um auf anderem Weg an die Abfälle heranzukommen, sondern auch gesellschaftliche Verhältnisse, die dies ermöglichen. Hierzu gehören z. B. stabile politische Verhältnisse und die Verfügbarkeit über entsprechendes Budget und Kompetenzen.
Diese Einteilung ist, wie gesagt, recht grob. Sie sollte aber eine erste Differenzierung in Bezug auf die unterschiedlichen Strategien ermöglichen, verschiedene Anteile des endlagerrelevanten Zukunftswissens jeweils angemessen zu beurteilen und ihre Wechselwirkungen zu untersuchen.

5 Endlagerung: langfristige Planung für eine offene Zukunft

Die Erwartbarkeit von Zukunftsaussagen im Endlagerbereich zu erhöhen, ist kein Selbstzweck, sondern für eine möglichst gute und verantwortliche Entscheidungsfindung wichtig und teils unerlässlich. Dies unterstreicht die Notwendigkeit weiterer geowissenschaftlicher und geotechnischer Forschung. Dabei können die genannten Schwierigkeiten teilweise gelöst werden. Allerdings ist deutlich schwieriger zu bestimmen, was dies konkret (nicht nur konzeptionell) im Standortauswahlverfahren und im operativen Bereich eines späteren Endlagers bedeutet.
Als erstes ist festzuhalten, dass sich zu hohe Kontinuitätsunterstellungen über lange Zeiträume verbieten. Dies gilt vor allem im gesellschaftlichen Bereich, wo mit überraschenden Entwicklungen, aber auch mit desaströsen Ereignissen gerechnet werden muss. Schaut man auf die 500 Jahre der deutschen und europäischen Geschichte zurück, die das Pendant zu den 500 Jahren bilden, für die die Rückholbarkeit nach Verschluss des Endlagerbergwerks gewährleistet werden soll, so kann festgehalten werden:
Obwohl keine belastbaren Aussagen über gesellschaftliche Zukünfte gemacht werden können, sind Überlegungen zu den entsprechenden Möglichkeitsräumen unerlässlich, um undurchschaute und problematische Kontinuitätsannahmen zu vermeiden. Hier besteht erheblicher Bedarf an gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Forschung. Eine vertiefte Kenntnis der relevanten Themenfelder könnte helfen, den Kontinuitätsbias so weit als möglich reflexiv einzuhegen und Methoden zu finden, um Langzeitprojekte mittels geeigneter Stresstests und entsprechender Anpassungen resilienter gegenüber umstürzenden gesellschaftlichen Veränderungen zu machen (Blattmann et al. 2023, S. 32).
Zweitens müssen alle Entscheidungswege zur und in der Endlagerung flexibel, adaptiv und lernend sein, um neue gesellschaftliche Konfigurationen und neues wissenschaftliches Wissen berücksichtigen zu können. Dann immerhin kann die Offenheit der Zukunft mit der Unsicherheit des Zukunftswissens sich sogar positiv auswirken, da die Planungen dann nicht auf dem Wissens- und Einschätzungsstand zu einer bestimmten Gegenwart eingefroren wären. Entsprechendes sieht das Standortauswahlverfahren vor, freilich mit einem gewissen Selbstwiderspruch. Denn der Kriteriensatz zur Auswahl des bestmöglichen Standorts wurde mit Abschluss der Endlagerkommission 2016 festgelegt und eingefroren, ein Lernen auf dieser Ebene also ausgeschlossen, es sei denn, es kommt zu Gesetzesänderungen. Ist die Fixierung auf einen Kriteriensatz zwar zur Sicherstellung von Gleichbehandlung und Vergleichbarkeit verständlich, so sind dadurch doch dem Lernen Grenzen gesetzt worden.
Auch die an das Standortauswahlverfahren anschließenden Phasen der Errichtung des Endlagerbergwerks, des Baus der erforderlichen Logistik und der Einlagerung der Abfälle bis zu einem Verschluss des Bergwerks erfordern eine lernfähige Long -Term Governance (Kuppler und Hocke-Bergler 2019). Die auch für andere technische Großprojekte extrem lange Zeitdauer macht einen klassischen Planungsansatz unmöglich. Um den Prozess auch von Anfang an lernend zu gestalten, ist ein begleitendes Monitoring mit periodischen und kritischen Evaluierungen, z. B. Peer Reviews, unerlässlich. Dabei müssen auch relevante Veränderungen im Umfeld beachtet werden wie z. B. politische Veränderungen, Wertewandel oder neue technologische Optionen, um möglichen Umsteuerungsbedarf, Umsteuerungsmöglichkeiten oder Adjustierungschancen zu erkennen und berücksichtigen zu können.
Bereits mit der Festlegung des Standortes, intensiviert nach Beladung des Endlagers muss die Entwicklung des geologisch-geotechnischen Systems beobachtet werden. Das Endlagermonitoring soll „den Zustand der geologischen Formation, der hydrogeologischen Verhältnisse und der Abfälle […] systematisch … beobachten und kann damit erst mit der Standortfestlegung beginnen“ (EK 2016, S. 275 f.). Auf diese Weise sollen unvorhergesehene Verläufe frühzeitig entdeckt werden, um ggf. daraus Konsequenzen ziehen zu können, im Extremfall bis hin zur Rückholung oder Bergung der Abfälle (freilich sind zurzeit weder die Kriterien noch die Entscheidungswege für derartige Fälle bestimmt). Monitoring-Einrichtungen sollten beispielsweise Spannungszustände und ihre Entwicklung oder die Bildung potenzieller Wasserdurchlässigkeit überwachen, die Temperaturentwicklung beobachten, einen Wasserzutritt sofort detektieren, über Gasbildung oder eine Radionuklidfreisetzung in den Nahbereich hinein informieren.
Während alle diese Maßnahmen dazu dienen, die für die Einschätzung der Sicherheit des Endlagers erforderlichen Zukunftsaussagen auf dem Stand der jeweiligen Gegenwart aktuell zu halten statt sich auf vergangene Zukünfte zu verlassen, geht die Forderung des StandAG, dass der Umgang mit hochradioaktiven Abfällen im Rahmen eines grundsätzlich selbsthinterfragenden Systems (DAEF 2021) stattfinden solle, weiter. Neben den organisationssoziologischen und -psychologischen Argumenten für diese Forderung – z. B. Vermeidung von Betriebsblindheit und Wagenburgmentalität – steht der Wunsch nach Vermeidung unerkannter und unreflektierter Pfadabhängigkeit. Während das Aktualisieren der Zukunftsaussagen über geologische oder geotechnische Entwicklungen aus früheren Zeiten für das Update einer Sicherheitsbewertung sich auf die Optimierung im einmal festgelegten Pfad der Endlagerung bezieht und dafür auch notwendig ist, umfasst die Selbsthinterfragung auch die Option, auf ganz andere Pfade zu wechseln, insofern es hierzu geologische, geotechnische oder gesellschaftliche Gründe gibt. Im jahrzehntelangen Zeitraum der Standortauswahl, des Baus, der Einlagerung der Abfälle, des Verschlusses und der Überwachung eines Endlagers werden mit hoher Wahrscheinlichkeit neue wissenschaftlich-technische Optionen zum sicheren Umgang mit den radioaktiven Abfällen ins Gespräch gebracht werden. Auch Politik und Gesellschaft werden sich in diesem Zeitraum erheblich ändern, sodass eine geeignete Long-Term Governance (Kuppler und Hocke-Bergler 2019) sich immer wieder der veränderten Wissensstände und ihrer Relationen zu Politik und Gesellschaft versichern muss. Entgegen der Planbarkeit langfristiger Zukünfte steht hier die Offenheit der Zukunft als Gestaltungsraum im Mittelpunkt. Das in der gegenwärtigen wissenschaftlich-technischen Zivilisationsform negativ klingende Wort von der Unsicherheit des Zukunftswissen zeigt auf diese Weise seine positive Seite: es ist Ausdruck menschlicher Freiheit und Flexibilität. Diese freilich gilt es verantwortlich zu nutzen.
Dieser Beitrag ist im Rahmen des Vorhabens TRANSENS entstanden, einem Verbundprojekt, in dem 16 Institute bzw. Fachgebiete von neun deutschen und zwei Schweizer Universitäten und Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten. Das Vorhaben wird vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages und im Niedersächsischen Vorab der Volkswagenstiftung vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) von 2019 bis 2024 gefördert (FKZ 02E11849A-J).
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Fußnoten
1
In den Diskussionen zu den Verordnungen des Bundesumweltministeriums über Sicherheitsanforderungen und vorläufige Sicherheitsuntersuchungen für die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle von 2020 wurde dieser Punkt immer wieder diskutiert, so etwa anhand des Ersatzes von „Nachweis“ der Sicherheit durch „Bewertung“ im Text der Verordnung (z. B. NBG 2020, Erläuterung zu Punkt 2).
 
2
Das Wort „Relevanz“ ist hier wichtig. Nicht jede Vermehrung des Datenbestandes vergrößert den Grad der Erwartbarkeit geologischer Zukunftsaussagen.
 
Literatur
Zurück zum Zitat Blattmann H., Clauser C., Geckeis H. et al. (2023) Sichere Entsorgung und Tiefenlagerung von hochradioaktivem Material – Forschungsperspektiven. acatech DISKUSSION. Blattmann H., Clauser C., Geckeis H. et al. (2023) Sichere Entsorgung und Tiefenlagerung von hochradioaktivem Material – Forschungsperspektiven. acatech DISKUSSION.
Zurück zum Zitat BMU – Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2010) Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle. K-MAT 10. BMU, Berlin BMU – Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2010) Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle. K-MAT 10. BMU, Berlin
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Metadaten
Titel
Offene Zukunft und unsicheres Zukunftswissen: die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle
verfasst von
Armin Grunwald
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-42698-9_2