Jede Handlung und auch das Nicht-Handeln vollzieht sich wertbasiert und wertgeleitet (Askegaard et al., 2014; Ladenthin, 2022, S. 46). Das lässt sich im Kontext der Diskurse um Ernährung sehr gut nachzeichnen. Werte als Ideale sind einer Sache oder Handlung nicht innewohnend oder anhaftend wie seine Beschaffenheit. Damit sind Werte als Ideale weitreichender und abstrakter als die oben besprochene Lebensmittelqualität, jedoch können sie gleichwohl für das subjektiv geprägte Qualitätsurteil leitend sein.
Die ökonomische Philosophie fasst Werte – hier gibt es sie nur im Plural – als Ideale sehr viel weiter, teils abstrakter auf (Vargo et al., 2008). Allgemein dienen diese Werte Individuen als Orientierungsgrößen von individuellen Bewertungen und sind auf das menschliche Wohl ausgerichtet. In seinen philosophischen Betrachtungen beschreibt Wildfeuer (2022) Werte als „Strebenskorrelate“, die als „moralisches Navigationsgerät“ u. a. das Denken und Handeln des Menschen beeinflussen. In ähnliche Richtung geht die Beschreibung des Volkswirtes Kaube (2022), der Werte als „Gesichtspunkte des Vorziehens“ bezeichnet, was man auch als Voreingenommenheit lesen könnte.
Es gibt jedoch weitere Disziplin-spezifische Perspektiven auf Werte (nach Standop, 2016, S. 24 ff.) und Wertediskurse sind weit über die Ökonomie noch in vielen Denkrichtungen omnipräsent. Die Psychologie geht bspw. davon aus, dass Werte ein Bereich der Persönlichkeit sind und sich im Verhalten oder in Bewertungen ausdrücken. Hier werden Werte vorwiegend empirisch operationalisiert.
Die Soziologie hingegen meint, dass Werte in prägender, bestimmender Weise alle Bereiche der Gesellschaft durchziehen und maßgeblich Anteil an der Steuerung von Alltagspraktiken haben (Standop, 2016). Indem der Pädagoge Fees (2022) Werte als „Wissenselemente“ bezeichnet, könnte man daraus eine die innere Haltung beeinflussende Funktion ableiten, die die Subjektivität menschlicher Sicht- und Handlungsweisen ausmacht.
Zwei grundlegende Dinge werden in diesen Ausführungen deutlich: Werte werden offenbar auf individueller sowie auf der Ebene von gesellschaftlichen Gruppen und der von Kulturen verortet, wo sie konsensuell ausgehandelt und damit teils normierend sind. Einen frühen Definitionsversuch mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, der die verschiedenen Ebenen inkludiert, unternahm der Anthropologe Clyde Kluckhohn (1951, S. 395, zitiert nach Hills, 2002): “A value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means, and ends of action.”. Werte gelten damit als explizites (i. S. v. ausdrücklichen) oder implizites (i. S. v. unausgesprochenen) charakterisierendes Konzept von Individuen oder Kollektiven über das Erstrebenswerte, wodurch verfügbare Handlungsweisen (engl. ‚modes‘), -mittel (engl. ‚means‘) und -ziele (engl. ‚ends‘) ausgewählt werden. Anders formuliert verleihen Werte dem Handeln einen Ordnungsrahmen und gleichzeitig eine Sinnrichtung (Rekus, 2022, S. 21). Werte leiten Bevorzugungen, Prioritäten, Einstellungen, Meinungen, Nutzen und Positionierungen (Golonka, 2009; Wildfeuer, 2022; Fees, 2022) und sind die Basis für das bewertende Urteil (Sánchez-Fernández & Iniesta-Bonillo, 2007). Affektive und kognitive Anteile der Persönlichkeit sowie zielgerichtetes Wollen (engl. ‚conative‘) seien gleichsam wichtig für dieses Konzept (Harder, 2014).
Werte werden in Publikationen jedoch immer noch sehr weitfassend und Perspektiven-spezifisch charakterisiert. Es entsteht der Eindruck eines abstrakten Sammelbegriffs, der in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich ausgelegt, interpretiert und teilweise idealisiert wird. „Werte werden gesetzt und durchgesetzt“, sagt Wildfeuer (2022). Kontur, Inhalt und Reichweite des Begriffs bleiben oftmals unklar. Im Kontext von Ernährung erschwert sich die Auseinandersetzung mit Werten zusätzlich durch andere Bezeichnungen im Rahmen wertgeleiteter Diskurse, v. a. bei Heranziehung englischsprachiger Texte: ideals, morals, morality, ethics, value/values, perceived values, goals (Grauel, 2013, 2016; Heblich et al., 2023).
Konzeption von Werten: Vom Individuum zur Kultur
Wie oben beschrieben, geht die psychologisch ausgerichtete Forschung davon aus, dass Werte und deren Hierarchien neben bspw. Motiven und Interessen ein ureigener Teil der Persönlichkeit sowie menschlichen Identität und Individualität sind (Albert, 2008; Beckers, 2018; Standop, 2016, S. 15; Horn & Schwarz, 2012; Welzel, 2009). Werte seien in der emotional-affektiven Dimension der Persönlichkeitsstruktur verankert und daher nicht, oder nur ungenügend über kognitive Vermittlung lernbar (Joas, 2016). Die wertebasierte Verhaltenssteuerung läuft nach dieser Auffassung gewohnheitsmäßig ab. Die Schub- und Zugkräfte der zugrundliegenden Werte in Entscheidungen werden selten, bis gar nicht wahrgenommen oder reflektiert. Der Psychoanalytiker Freud ging sogar noch ein Stück weiter und sieht egoistische Werte auf die triebhafte Befriedigung der Lust begrenzt zugunsten derer Forderungen des Gewissens bspw. nach Selbstlosigkeit unterdrückt würden (vgl. Albert, 2008). Eine Auffassung, die heute unter verschiedenen Anglizismen Aufmerksamkeit erhält: ‚consumer-citizen-gap‘, ‚value-action-gap‘, ‚attitude-behavior-gap‘, ‚belief-behavior-gap‘, ‚knowledge-attitudes-practice-gap‘ – also auf Deutsch übersetzt: die Einstellungs-Verhaltens- oder Wunsch-Wirklichkeits-Lücke. Ein Paradoxon, das die Theorie der ‚consumer-citizen-gap‘ prägnant verdeutlicht, wurde im Rahmen der Naturbewusstseinsstudie 2020 des Bundesamtes für Naturschutz erfasst (Mole et al., 2021): Angehörige gehobener Milieus äußern ein deutlich höheres Naturbewusstsein und eine höhere Bereitschaft, ihren Lebensstil bspw. in Bezug auf den Fleischkonsum unter Nachhaltigkeitsaspekten ändern zu wollen als sozial schwächer gestellte Milieus. Allerdings haben gesellschaftlich besser gestellte Personenkreise ohnehin einen ressourcenintensiveren Lebensstil, der eine schlechtere Ökobilanz aufweist.
In der Motivationsforschung werden Werte mitunter auch als psychische Energie bezeichnet, die zur Sinnsuche oder Bedürfnisbefriedigung verwendet wird. Damit zeigen sich Analogien zwischen der psychisch determinierten Auffassung und dem von anderen Autor*innen genutzten und auf Kurt Lewin (1926) zurückgehenden Begriff der Valenz. Valenz, oder auch die Wertigkeit eines Zielobjektes, besitzt Aufforderungscharakter und ist die Menge psychisch-emotionaler Energie, die auf das Verhalten des Individuums einwirkt (Albert, 2008). Diese ist umso stärker, je größer die Spannung des Individuums zur Bedürfnisbefriedigung ist (Lewin, 1926).
So beeinflussen individuelle Werte, respektive die Valenz die Auswahl von zur Verfügung stehenden Handlungsweisen, -mitteln und -zielen (Hills, 2002). Überwiegend unterbewusst werden Handlungen nach persönlichen Prioritäten geordnet und Präferenzen, Einstellungen und Meinungen orientieren sich an diesen Ordnungsaspekten und „sinnkonstituierenden Leitlinien“ (Beckers, 2018; Harder, 2014; Erpenbeck & Sauter, 2019; Fees, 2022; Standop, 2018; Fuchs & Köbel, 2020; Höffe, 1997). Allerdings geht ein Teil der psychologisch Forschenden davon aus, dass Individuen das „vollkommene Selbst“ anstreben und Valenzen zugunsten anderer energetischer Werte unterdrückt werden können, sodass es zu systeminternen Verschiebungen und Veränderungen der Werte kommt (Albert, 2008), oder nicht alle Werte immer zwingend umgesetzt werden (Frey, 2016). Außerdem werden im Rahmen der Persönlichkeitspsychologie unterschiedliche, teils idealtypische, aber dominante Lebensthemen, die sich an Werten orientieren, typologisiert: Auf Basis quantifizierbarer Persönlichkeitstests wie bspw. dem „Thematischen Auffassungstest nach Murray und Morgan“ gibt es demnach theoretische, ökonomische, ästhetische, soziale, politische oder religiöse Menschen – oder je nach Clusterung auch weitere Subtypen. Disziplin-intern wird kritisiert, dass verwandte Begriffe wie Charakterzüge, Interesse, Motivation, Bedürfnisse, Ziel oder Einstellungen ungenügend vom Wertebegriff abgegrenzt werden (vgl. Albert, 2008).
Mit der Begründung des Neobehaviorismus weitete die psychologische Forschung den Blick vom Individuum auf weitere Werte-determinierende Faktoren, die sich der Beobachtung oder experimentellen Messung von außen entziehen. Dem Abwägungsprozess im Individuum wurde also eine stärkere Bedeutung beigemessen und der Einfluss der sozio-kulturell verankerten „Wertestandards“ wurde im Rahmen der sog. „sozialen Wende“ in der Psychologie Rechnung getragen. Durch die quasi Gleichstellung von individuellen und sozialen Bedürfnissen in der Funktion von Werten bezog er zunehmend verstärkende Reize der Umwelt in die psychologische Forschung mit ein und kontrastiert damit die Freud’sche Perspektive, die das Ego und seine triebhafte Steuerung als zentral erachtete. Nach Tolman (zitiert nach Albert, 2008) versuchen Individuen ihre eigenen Werte in eine Ordnung zu bringen, die sich mit der Umgebungskultur möglichst umfassend deckt.
Heute findet diese, für die damalige psychologische Auffassung revolutionäre Denkweise, allgemeine Anerkennung. Individuelle Werte sind nur im Kontext von der soziokulturellen Lebenswelt – und dem im jeweiligen Milieu gültigen Habitus – zu begreifen (Gebauer, 2011). Außerdem werden Werte und die Konstruktion individueller Wertegebilde und -hierarchien in Abhängigkeit von verschiedenen weiteren Faktoren beeinflusst (Woodward & Shaffakat, 2014): bspw. sozio-ökonomischer Status, Persönlichkeit, Lebensphasen, Nationalkultur, Religiosität oder auch Spiritualität. Auf Mikroebene sind Wertegebilde kein geschlossenes System. Unter dem Streben nach Kongruenz steht das interne System im ständigen Austausch mit Informationen aus der Umwelt, verarbeitet diese und ordnet sie ein. Zu diskutieren ist, ob es zwischen den Systemen eine Konkurrenz zwischen Egoismus und Altruismus überhaupt gibt, und ob Individuen sich berechnend auf egoistische Nutzenmaximierung ausrichten, in dem sie kooperativ sind (vgl. Albert, 2008).
Es klingt nun schon an, dass individuelle Werte und die Ausrichtung des Verhaltens daran nicht von dem soziokulturellen Ordnungsrahmen trennbar sind. Die hier fortgeführte „Sezierung“ von Werten als Idealen unter soziologischer und/oder kulturwissenschaftlicher Perspektive erfordert das Aufsetzen ebendieser „Brillen“ oder „Hüte“. Im weiteren Verlauf wird zumeist auf eine Trennung zwischen der sozial-gesellschaftlichen – und der kulturellen Ebene verzichtet, wo möglich, jedoch auf die wissenschaftliche Disziplin verwiesen.
Der Ethnologe Wolfgang Rudolph (1959, zitiert nach Albert, 2008) berücksichtig in seiner Definition bspw. alle drei Ebenen: „Ein kultureller Wert ist ein sozial sanktionierter, kulturell typisierter und psychisch internalisierter Standard selektiver Orientierung für Richtung, Intensität, Ziel und Mittel des Verhaltens von Angehörigen des betreffenden soziokulturellen Bereichs. Sein objektives Kriterium ist Bedeutsamkeit im kulturellen Wertsystem, sein subjektives Kriterium ist Bedeutung in der individuellen Persönlichkeit.“. Damit sind „Werte (…) Ausdruck menschlicher Kultur und dienen dem durch 'Instinktlosigkeit und Unsicherheit' gekennzeichneten Menschen als Orientierung mit situationsübergreifender Relevanz." (Standop, 2016). Ein Ausbruch aus dem kulturgegebenen Werterahmen durch non-konformistisches oder provokantes Verhalten führt zum Ausstoß, zur Abwertung oder zur Sanktionierung des Individuums. Stichworte: Provokation, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung, Drogenkonsum etc.
Im Kontext des anerkannten und „gültigen“ Werterahmens können Individuen also „richtig“ oder „falsch“ handeln. Jedoch ermöglichen insbesondere non-konformistische Personen oder Gruppen, die eine kritische Haltung gegenüber Normen sowie eine geringe Autoritätsorientierung haben, die Weiterentwicklung der Gesamtkultur durch Anpassungsprozesse an neue Rahmenbedingungen einer veränderten Umwelt (Albert, 2008). Im Kontext von Ernährung können hier v. a. sog. „Klimaaktivist*innen“ als Treiber der gesellschaftlichen Transformation genannt werden, die außerhalb wirtschafts-politischer und wissenschaftlicher Strebungen u. a. nachhaltigere Ernährungsumgebungen einfordern und hierbei nach mehrheitlicher Auffassung auch den zivilen Ungehorsam in Kauf nehmen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, 2023). Daran lässt sich veranschaulichen, dass der soziokulturelle Aushandlungsprozess über den moralischen Maßstab anpassungsfähig und flexibel sein muss und sich im zeitlichen Wandel geänderten Umwelten anpasst: Heute gelten ressourcenüberschreitende Ernährungsweisen zunehmend als unmoralisch. Die aufmerksamkeitserzeugenden Mittel überschreiten dabei nicht selten die moralischen Wertgrenzen anderer Individuen oder ganzer Gruppen, wenn sich bspw. Aktivist*innen zur Rush-Hour an Pendlertrassen kleben. Wertgeleitetes Handeln ist damit ein Korrektiv, dass egoistische Eigeninteressen zugunsten von Gemeinschaftsinteressen einschränkt (Standop, 2016, S. 17).
Mit der „Matrix ethischer Prinzipien“ ergänzen Coff und Long (2009) weitere bedeutende Aspekte zur Konzeption von Werten. Sie zeigen für das Beispiel Gerechtigkeit auf, wie diese aus verschiedenen Perspektiven aufgefasst werden kann (siehe Tab.
2.2). Dieser Ansatz wertet analog dem
‚EcoHealth‘-Ansatz (Lerner & Berg, 2017) die Biota von Rechtsobjekten (vgl. § 90 ff., Abschn. 2, Sachen und Tiere, BGB [2002]) zu anspruchs- und daseinsberechtigten Subjekten auf und spricht ihnen damit auch im Ernährungssystem einen, unter ethischen Gesichtspunkten nicht vernachlässigbaren Wert zu.
Tab. 2.2
Auffassung von Gerechtigkeit in Abhängigkeit von der subjektiven Perspektive.
(Ergänzt nach Coff & Long, 2009)
Nutzpflanzen und Nutztiere | Respekt |
Produzierende (bspw. Landwirt*innen), | faire Geschäftsbeziehungen |
Beschäftigte / Angestellte im Ernährungssystem | Anerkennung der Systemrelevanz, Erhaltung der Arbeitsplätze |
Konsumierende | Bezahlbarkeit von Lebensmitteln für alle, im Sinne von Chancengleichheit |
Biota (alle Lebewesen von Ökosystemen ausgenommen Menschen) | Erhaltung der Populationen |
In diesen Kontext passt auch eine Untersuchung von Bödeker (1992), in der sich zeigte, dass ökonomisch-abgesicherte Milieus das Solidaritätsmotiv auf einheimische Produzenten und die „Dritte Welt“ beziehen, wohingegen „schwächere Milieus“ es auf den engeren Familien- und Freundeskreis beziehen, um durch Solidarität die Knappheit von Gütern gemeinsam zu umgehen.
In diesem Zusammenhang muss jedoch diskutiert werden, ob es überhaupt möglich ist, Daseinsfragen perspektivübergreifend zu analysieren und alternative Auffassungen anzunehmen. Unter Heranziehung der entsprechenden Gesetze (vgl. BGB und Tierschutzgesetz), ist von einer impliziten Rangordnung bei der Anspruchsberechtigung auszugehen.
Berry (1969) verweist für die interkulturell forschende Psychologie auf das Dilemma, dass jede Handlung in Relation zum Kontext, in dem es auftritt, betrachtet werden muss und sich ein Vergleich von Handlungen aus verschiedenen Kontexten von vorherein ausschließt. Es scheint jedoch ein zutiefst menschliches Bedürfnis zu sein, zu vergleichen: Sich selbst im Verhältnis zu anderen, aber auch verschiedene Außenstehende sowie unterschiedliche Systeme zueinander. Jedoch kommt es statt der implizierten Verständigung eher zu einer generalisierenden Ermächtigung und Deutungshoheit durch den oder die Analysierenden. Es ist anzunehmen, dass Forschende aller Disziplinen zumeist eine etische Denkweise einnehmen (zum Begriffspaar etisch – emisch vgl. Pike, 1967; Höhl, 2023), die Systeme von außen betrachten und anhand universeller Kriterien strukturiert, deren Gültigkeit als absolut vorausgesetzt wird. Demgegenüber nehmen Forschende bei emischen Ansätzen eine Position innerhalb des zu erforschenden Systems ein und lassen sich auf die Entdeckung von Strukturen ein, ohne diese vorab vorauszusetzen. Im Sinne des methodischen Prinzips der „Urteils- und Wertfreiheit“ in den Wissenschaften, das vom Soziologen, Jurist und Ökonom Max Weber (1972, S. 8) postuliert und seitdem vielfach diskutiert wurde gelten die erforschten Kriterien als relativ im Bezug zu systeminternen Eigenschaften (Berry, 1969).
Internalisierung von Werten als sozialisatorischer und erzieherischer Lernprozess
Die Frage der Urteils- und Wertfreiheit stellt sich ebenso bei der pädagogischen und erzieherischen Internalisierung von Werten. Werte seien nicht als Anweisungen zu verstehen (Kopp & Schäfers, 2010), sondern als Maßstäbe der Lebensführung im sozialen Gefüge mit anderen (Harder, 2014). Werte werden also nicht von Menschen „erfunden“ oder moralisch konstituiert. Menschen definieren Werte. Moralische Konventionen begründen, bestätigen und ordnen die definierten Werte.
Die sozialisatorische und lebenslange Internalisierung von Werten setzt eine gewisse Anpassung an zugeschriebene Rollen und daran geknüpfte Erwartungen voraus: „man macht das so“ (Mikhail, 2022). Das Individuum befindet sich in einem Spannungszustand zwischen Erfüllung der Rollenerwartungen, um die familiäre und/oder gesellschaftliche Anerkennung zu maximieren, sowie der Abgrenzung gegenüber diesen Konventionen, um die persönliche Integrität zu wahren (Albert, 2008). Passt sich ein Individuum nicht ausreichend den Erwartungen an, kommt es wie oben beschrieben durch Provokation zu Sanktionen.
Die Soziologie geht sogar so weit, dass die Internalisierung von Werten nicht an das Individuum als solches gebunden ist, sondern dieses in der Ausübung verschiedener Rollen in verschiedenen Kontexten auch verschiedene Varianten von Wertgebilden realisieren kann, bspw. in der Ausübung der Elternrolle, der beruflichen oder freundschaftlichen Rolle. Der soziologischen Theorie zufolge stehen grundsätzlich Bedürfnisse des Sozialsystems, also das Funktionieren und Überleben bspw. der Familie oder der Gesamtgesellschaft, über den Individualbedürfnissen: Alltägliche Handlungen von Individuen sind demnach das Produkt der Verinnerlichung von für das Überleben des Sozialsystems notwendigen Werten (Albert, 2008), die verschiedenen Theorien nach, in Abhängigkeit von qualitativ unterschiedlichen Etappen in der Entwicklung kognitiver Strukturen, stufenweise verläuft (Lempert, 1988).
Die Erziehungswissenschaft beschreibt verschiedene Modelle zur Internalisierung von Werten (Rekus, 2022), die von unterschiedlichen Freiheitsgraden der Individuen ausgehen (vgl. Tab.
2.3). Durch Instruktion, Vorbildverhalten oder durch Übung innerhalb der sog. „
Werte-Erziehung“ werden Kinder bspw. auf das „richtige“ Verhalten hingewiesen und als „unbeschriebenes Blatt“ auf ihre Zukunft als Teil der „normierten Gesellschaft“ vorbereitet (Standop, 2016; Rekus, 2022). Bei der „
Werterziehung“ hingegen ist die Zukunft unbestimmt und Individuen sind frei(er) in der Gestaltung der eigenen Zukunft, ohne sie auf einen bestehenden Werterahmen zu begrenzen (Rekus, 2022).
Tab. 2.3
Dreistufiges Modell der Erziehung in Bezug auf Werte (nach Ladenthin 2022, S. 36), ergänzt um Ideale, die in dem Zusammenhang handlungsleitend sein können
Sozialisatorischer Enkulturationsprozess | Intentionale Integration in als wertvoll erachtete Handlungen | Gemeinsame Mahlzeiten am Familientisch; gegessen wird, was auf den Tisch kommt | Bewahrung |
Werte-Erziehung | Übertrag eigener Wertentscheidungen und Aufforderung zur Nachfolge | Verbalisierte Aufforderungen: „Bleib sitzen, bis alle fertig gegessen haben!“; „Es wird von allem probiert!“; „Sitz still!“ | Konformität |
Wert-Erziehung | Symbolische und hypothetische Reflektion über die Geltung wertbezogenen Handelns | Gemeinsame Reflektion, wie gemeinsame Mahlzeiten zu gestalten sind, bzw. ob es überhaupt gemeinsame Mahlzeiten geben soll. Die Handlungsevidenz an sich wird hinterfragt | Autonomie |
Funktion von Normen
Um den Wertbegriff zu verstehen, ist es hilfreich, sich auch mit sozialen Normen und deren Funktion auseinanderzusetzen, denn beide Begriffe werden im Sprachgebrauch häufig in Zusammenhang gebracht oder finden simultan Anwendung (Dabrock, 2015). Auf gesellschaftliche Systeme blickend bezieht sich der wesentliche Unterschied zwischen den Begriffen Wert und Norm auf deren Verbindlichkeit bzw. Gültigkeit: Soziale Normen sind als auf Verhalten bezogene Erwartungen oder Codices zu verstehen, die zur Aufrechterhaltung sozialer Systeme grundlegend sind (Parsons, 1949). Das Verhalten in sozialen Situationen ist nicht beliebig, es ist zumeist innerhalb eines gewissen Spielraums vorgeformt (Popitz, 2001). Normen sind im Interesse aller sozial verbindlich, das Zusammenleben regulierend und bezogen auf individuelle Interessen restriktiv. Normen strukturieren die gegenseitigen Erwartungen der an einer Situation beteiligten Personen und machen Handlungen bzw. Reaktionen vorhersagbar. Soziale Normen reduzieren Komplexität. Sie zeigen an, welche Handlungen geboten, erlaubt oder verboten sind. Zumeist eröffnen sie jedoch eine gewisse Entfaltungsfreiheit innerhalb der normativen Grenzen. Wer diese Grenzen überschreitet, kann als exzentrisch gelten (Von Trotha, 1978). Bei hoher Relevanz der Norm für das soziale System, bspw. bei Fragen der Sittlichkeit, kann die Normabweichung auch als kriminell eingestuft und über gesetzliche Strafen sanktioniert werden. Normen-konformes oder non-konformes Verhalten ist einfacher zu operationalisieren und damit einfacher zu belohnen oder zu bestrafen als Werte-konformes (Standop, 2016, S. 18 ff.; Parsons, 1949).
Soziale Normen beinhalten konkrete Aufforderungen über die gesellschaftlich eine gewisse Übereinkunft herrscht, ohne dass Einzelne sich diesen einfach entziehen können (Popitz, 2001). Die Moralphilosophie geht davon aus, dass „kategorische Imperative“, was im Sinne Immanuel Kants so viel bedeutet wie „absolute / unbedingte Gebote“ (Ebert, 1976) normieren, welche Handlungen moralisch sind und dem Prinzip der Sittlichkeit folgen. Im Sinne Kants werden „objektive Grundsätze“ durch die praktische Vernunft bestimmt und leiten das Sollen, wohingegen sog. „Maxime“ selbstgesetzte Handlungsregeln sind, die ein Wollen ausdrücken (Ebert, 1976). Nach dem abstrakten Wert des „Wahren“ zu streben, drückt sich z. B. in einer konkreteren, meist auf reale Situationen bezogene, aber normative Aufforderung aus: „Du sollst nicht lügen!“.
Über Werte sind sich Diskurspartner spezifischer Kontexte sehr schnell einig: Wer ist schon gegen Gesundheit? Aber die dazugehörigen Verhaltenskodizes sind streitbar (Ladenthin, 2022, S. 44) und Ergebnis einer soziokulturellen Aushandlung, die stetig wandelbar ist. Passende Stichworte sind: Körperbezogene Normen, Gebot des Maßhaltens, die Ächtung von Völlerei. Weitere, konkreter auf alltägliches Essen bezogene Normen betreffen das Probiergebot wie auch das Gebot, nur am Tisch zu essen oder bis zum Ende des Essens still zu sitzen.
Normen der Ernährung mit Bezug zur Gesundheit
Heute geht die Wissenschaft davon aus, dass sich auf Ernährung bezogene soziale Normen schon in der Steinzeit und damit der frühesten Epoche von Hominiden ausbildeten. Spätestens seit der Antike traten im Rahmen der
‚diaita‘ Essensregeln zum Ziele der Verbesserung von Beschwerden, zur Heilung oder mit sonstigem Gesundheitsbezug in den Gebieten des heutigen europäischen Raums auf (Askegaard et al., 2014; Coveney, 2006), die im zeitlichen Verlauf verstärkt moral-theologisch eingefärbt wurden (Hirschfelder & Eifler, 2021). Heutige Ernährungsnormen werden oft in Form von Dichotomien, also einer Zweiteilung ohne Schnittmenge (vgl. Barlösius, 2016) ausgedrückt und beziehen sich auf Handlungen, Situationen oder Denkweisen. Häufige Beispiele dafür sind:
-
essbar – nicht essbar
-
erlaubt – verboten
-
gesund – ungesund
-
gut – schlecht,
-
natürlich – künstlich,
-
veraltet (alt) – modern
Meist sind dichotome Wertungen und daran geknüpfte Ernährungsnormen nicht mit objektiven Kriterien abbildbar. So ist bspw. die Konzeption von „Gesundheit“ kein statischer Zustand, sondern ein Kontinuum, das sich nur multidimensional entlang ökologischer, sozialer, mentaler und physischer Faktoren messen oder bewerten lässt. Dennoch werden Menschen, Körperbilder und Lebensmittel in gesund oder ungesund kategorisiert. Daran zeigt sich, dass diese Normierungen eher sozial konstruiert sind (Askegaard et al., 2014).
Individuen geraten durch dichotome Wertungen in einen inneren Spannungskonflikt zwischen ihrem identitätsgebenden, milieuspezifischen Werten und damit ihrem inneren Selbst sowie ihrer Selbstdarstellung gegenüber anderen (Grauel, 2016). So wurde am Beispiel von vegan lebenden Personen in einer Studie gezeigt, dass Personen, die einen „Fehltritt“, den Konsum tierischer Produkte entgegen der inneren Haltung, zugaben, Angst hatten von der veganen Community als Betrüger denunziert zu werden. Infolge konnte beobachtet werden, dass diese Personen ihren Veganismus in einer weniger aufdringlicheren Art und Weise kommunizierten (Greenebaum, 2012).